Als Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre zu zerfallen begann, betrachteten viele Beobachter die Ereignisse als rein interne Krise: wirtschaftliche Probleme, wachsender Nationalismus, der Zusammenbruch föderaler Institutionen.
Doch eine genauere Analyse legt nahe, dass auch externe Akteure – insbesondere westliche Staaten – aktiv in diesen Prozess eingriffen, geleitet von klaren geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen.
Geopolitischer Kontext und Motive
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kalten Krieges verschob sich das Machtgefüge in Europa grundlegend.
Jugoslawien, ein Mitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten, war eine relativ starke und unabhängige Föderation. In diesem Kontext konnte die Fragmentierung des Landes Folgendes ermöglichen:
- Umlenkung des Einflusses in Südosteuropa und Ausschaltung eines „unabhängigen“ politischen Akteurs.
- Öffnung neuer Märkte und Integration der Nachfolgestaaten in westliche politische und ökonomische Strukturen.
- Neuordnung der Sicherheitsarchitektur des Balkans im Sinne westlicher Interessen.
2. Beispiele aus Archiven und diplomatischen Quellen
2.1 Deutschland – Kohl und Genscher
Laut kürzlich freigegebenen deutschen Diplomatenberichten vertrat Bonn Anfang 1991 offiziell die Position, dass „im Interesse der westlichen Stabilität … die Erhaltung Jugoslawiens“ wünschenswert sei.
(KOHA.net)
Doch ein im Portal Vijesti.me veröffentlichter Bericht zeigt, dass sich dieser Kurs im Herbst 1991 änderte: Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher kamen zum Schluss, dass die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens das „kleinere Übel“ sei.
Im Juli 1991 zitierte die Washington Post Kohl mit den Worten, „Yugoslavia’s unity cannot be maintained with military violence“, und dass die Europäische Gemeinschaft über eine Anerkennung der Republiken nachdenken müsse.
Diese Äußerungen zeigen, dass Deutschland nicht nur reagierte, sondern zunehmend aktiv auf die Anerkennung drängte.
2.2 Österreich – Alois Mock
Der österreichische Außenminister Alois Mock spielte eine auffallend aktive Rolle während des jugoslawischen Zerfalls.
Er setzte sich sowohl öffentlich als auch hinter den Kulissen für die rasche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens ein – ein Kurs, den er als „unumkehrbar“ betrachtete.
(Die Presse)
Eine Studie von 2013 hält fest, dass Österreich im Februar 1990 offiziell noch den Erhalt Jugoslawiens befürwortete, während Mock privat davon überzeugt war, dass die Föderation „nicht überlebensfähig“ sei.
(eTD Repository)
In einem Interview mit Der Standard erklärte Mock später: „Man hätte schon viel früher anerkennen müssen.“
Dieser Widerspruch zwischen offizieller Linie und persönlicher Überzeugung deutet auf einen kalkulierten außenpolitischen Kurs hin.
2.3 Frankreich – Jacques Chirac
Frankreich vertrat zu Beginn des Konflikts eine deutlich vorsichtigere Haltung.
Präsident Jacques Chirac und das Quai d’Orsay warnten vor übereilten Sezessionen und plädierten für den Erhalt der territorialen Integrität Jugoslawiens – ein Standpunkt, der auf Stabilität und diplomatische Zurückhaltung setzte.
(The Washington Post)
Diese Differenzen zeigen: Der „Westen“ war kein einheitlicher Block – doch alle Akteure teilten ein gemeinsames Interesse an der Neuordnung der Region.
3. Gründe für den kalkulierten Eingriff
Auf Grundlage der genannten Quellen lassen sich mehrere Motive erkennen:
- Öffnung der Märkte und wirtschaftliche Integration:
Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens boten ein neu strukturiertes, investitionsfreundliches Umfeld.
Der Zerfall der Föderation erleichterte westlichen Akteuren den Zugang zu Schlüsselbranchen wie Energie, Industrie und Finanzwesen. - Lenkung politischer Einflusssphären:
Die Auflösung Jugoslawiens ermöglichte es westlichen Staaten, den politischen Kurs der neu entstandenen Länder zu beeinflussen – etwas, das in einer starken, blockfreien Föderation kaum möglich gewesen wäre. - Sicherheits- und strategische Interessen:
Der schwächer gewordene Balkan erleichterte westlichen Mächten die Kontrolle potenzieller Instabilität und schuf Raum für künftige Integration, etwa durch das EU-Erweiterungsprogramm. - Legitimation durch das Prinzip der Selbstbestimmung:
Unter Berufung auf das Recht der Völker auf Selbstbestimmung – insbesondere Sloweniens und Kroatiens – gelang es westlichen Regierungen, politische Unterstützung und moralische Rechtfertigung für ihre Haltung zu gewinnen.
4. Fallbeispiele
- Anerkennung Sloweniens und Kroatiens (23. Dezember 1991):
Deutschlands Vorstoß gilt als entscheidender Moment, der den Zerfall beschleunigte. - Österreichs Rolle:
Wien gehörte zu den ersten europäischen Hauptstädten, die diplomatisch reagierten – offiziell im Namen der Stabilität, de facto aber als Wegbereiter einer Westintegration des Balkans. - Deutsches Dokument von Januar 1991:
„Im Interesse der westlichen Stabilität … die Erhaltung Jugoslawiens“ – eine Formulierung, die zeigt, wie rasch sich strategische Einschätzungen innerhalb weniger Monate änderten.
(Vijesti.me)
5. Kritische Anmerkungen und Grenzen der These
Obwohl viele Indizien auf berechnete westliche Einflussnahme hinweisen, existieren keine Beweise für einen koordinierten „Masterplan“ zum Zerfall Jugoslawiens.
Die historische Forschung zeigt vielmehr ein Netz unterschiedlicher Interessen und opportunistischer Entscheidungen:
- Frankreich und andere EU-Staaten verfolgten unterschiedliche Ansätze; der Westen war kein monolithischer Akteur.
- Interne Faktoren – wirtschaftliche Krise, Nationalismus, institutionelle Schwäche – bleiben zentrale Ursachen.
- Externe Akteure reagierten teils opportunistisch auf den Zerfall, statt ihn vollständig zu steuern.
Es war keine konspirative Regie westlicher Politiker wie Kohl, Chirac oder Mock, die Jugoslawien „gezielt“ zerlegten.
Vielmehr erkannten sie eine historische Gelegenheit – und handelten pragmatisch im Sinne ihrer nationalen und geopolitischen Interessen:
zur Öffnung Südosteuropas, zur Integration neuer Staaten in westliche Strukturen und zur Schwächung eines blockfreien Modells, das eine „dritte Option“ zwischen Ost und West verkörperte.
Mit anderen Worten:
Es war kalkulierte Opportunität, keine groß angelegte Verschwörung.
Wer nur die inneren Ursachen sieht, übersieht die äußeren Manöver – wer nur äußere Pläne vermutet, unterschätzt die Komplexität der inneren Dynamik.
Quelle
- Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (Berlin). „Document publications – Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD)“. Opis arhivskog stanja i dostupnosti dokumenata. archiv.diplo.de+2archiv.diplo.de+2
- Martens, Michael. „’Yours sincerely, Hans‑Dietrich Genscher’ – German Foreign Policy and the Disintegration of Yugoslavia 1991“. Southeast Europe in Focus, Jg. 5 (2023) 1/2023. Analiza arhivskih dokumenata iz Berlina. Südosteuropa-Gesellschaft e.V.
- „Secret German document on the breakup of Yugoslavia“. Vijesti (me) online. Pristup arhivama iz Berlina (novije otkriće). vijesti.me
- „The archive holdings – Federal Foreign Office“. Stranica Politisches Archiv‑BA. Detalji o arhivskim fondovima. archiv.diplo.de+1
- „German foreign policy in 1993: Kosovo under the shadow of the war in Bosnia“. KOHA.net. Diskusija o nemačkoj diplomatiji i arhivima. KOHA.net